Ein Plädoyer gegen die Bildbearbeitung bei Bewerbungsfotos

In meinem Beruf als Fotograf bin ich schon so manch skurrilen Dingen begegnet – und dazu gehören auch bisweilen die Wünsche meiner Kunden, wenn sie wegen Bewerbungsfotos zu mir kommen.

Eine der größten Schrullen ist die unreflektierte und vorschnelle Frage nach der Bearbeitung von Fotos mit Photoshop. Viele möchten, dass ich ihre Fotos kräftig retuschiere, das heißt, ich soll hier und dort ein paar Falten wegmachen, jede einzelne Narbe und jedes Muttermal Pixel für Pixel entfernen und sogar noch ein wenig die Figur strecken sowie das eine oder andere Fettpölsterchen verschwinden lassen. Die Nachfrage wird oft damit begründet, dass ich als renommierter Modefotograf doch jeden Tag solche Schönheitsfehler auf meinen Bildern ausmerzen würde.

Falten weg, Fett weg – Persönlichkeit weg!

Zum Leidwesen aller Fotografen sind viele Leute der Meinung, dass sie auf ihrem Bewerbungsbild makellos und glatt erscheinen sollten. Sie rechnen sich größere Chancen aus, wenn sie möglichst jung und attraktiv wirken. Kein Wunder, schließlich suggerieren uns die Hochglanzmedien, dass man heutzutage so aussehen muss, um erfolgreich zu sein. Aber glauben Sie mir: Das vollkommene Auslöschen äußerlicher Eigenheiten ist ein fataler Fehler. Denn wenn die Lachfalten oder das Muttermal im Gesicht verschwinden – wo bleibt da noch die Individualität, das Persönliche, das Besondere, was den Einzelnen ausmacht?! Denn mit der Individualität gehen auch die Ausstrahlung und Lebendigkeit flöten – und kein Mensch findet ein Bild ohne diese Faktoren sympathisch. Und schließlich wollen Sie auf Ihrem Bewerbungsfoto authentisch, kompetent und sympathisch wirken – nicht künstlich und unnahbar.

Geben Sie Ihrem Charakter die Wertschätzung, die er verdient

Sie dürfen sich hier ruhig alte Schwarz-Weiß-Bilder von Stars wie Marylin Monroe ins Gedächtnis rufen: Die Schauspielerin wäre nur halb so interessant und schön gewesen, hätte sie sich ihren berühmten Schönheitsfleck oder die Lachfältchen um die Augen wegretuschieren lassen. Oder stellen Sie sich das berühmte Foto von Albert Einstein nach einer Bildbearbeitung vor! Unmöglich, oder? Es gibt eine Menge Fotos, die wohl jeder als gut beurteilt – und das obwohl sie aus einer Zeit stammen, in der die modernen Bearbeitungstechniken noch nicht existierten. Es hängt also ausschließlich von der Kunst des Fotografen ab, ob Ihre Persönlichkeit optimal zur Geltung kommt. Geben Sie sich mit dem Retuschieren von temporären Hautirritationen wie Pickel und Herpesbläschen zufrieden. Alles andere wäre ein Angriff auf Ihre Einzigartigkeit.

Ein Hoch auf den Fotografen statt auf die Technik

Wie gesagt: Generell sind Bilder nur so gut, wie der Fotograf, der sie macht. Denn das beste Equipment und die besten Computerprogramme bringen gar nichts, wenn man nicht damit umzugehen weiß. Und was heißt es eigentlich, ein gutes Bild zu machen? Ganz sicher nicht, die Makellosigkeit eines Menschen herauszustellen. Es geht viel mehr darum, Emotionen beim Betrachter hervorzurufen – und das können nur gute Bilder!

Außerdem: Je besser der Fotograf, desto weniger muss beim Bild nachgearbeitet werden. Zu bedenken ist natürlich auch, zu welchem Zweck das Foto gemacht wird. Gerade bei Bewerbungsfotos gibt es nichts Schlimmeres, als Eigenheiten auszulöschen, denn insbesondere hier gilt es, aus dem Einheitsbrei der Mitbewerber herauszustechen – und das funktioniert in aller Regel nicht über Perfektion, sondern über eine individuelle, selbstbewusste Ausstrahlung.

Und ganz nebenbei: Irgendwann müssen Sie sich der Wirklichkeit stellen. Es gibt nichts Schlimmeres als überraschte Personaler, die aufgrund des Fotos eine/n viel jüngere/n, schlankere/n oder attraktivere/n Bewerber/in erwartet hätten. Sofort stehen Sie als jemand da, der nicht zu sich selbst stehen kann. Und das wollen Sie doch nicht, oder?

Ist eine Fotobearbeitung hier wirklich sinnvoll?

EINSTEIN, Photo by O. Jack Turner, 1947